Ist Science Fiction Empowerment oder Eskapismus? Wozu überhaupt noch Zukunft in Zeiten multipler globaler Krisen? Im Winter 2022 setzte ich mich mit meinen Studierenden im Seminar ‚Writing Urban Futures‘ an der TU Dresden mit Speculative Fiction, Methoden des kreativen Schreibens und Kritischen Geographien der Zukunft auseinander. Dabei ließen wir uns von Ursula K. Le Guins Steering the Craft und ihrer Carrier Bag Theory of Fiction leiten, und lasen Auszüge aus Octavia E. Butlers brachialem SF-Klassiker Parable of the Sower. Butlers Werk steht wie kaum ein anderes für Verwebungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kolonialer Herrschafts- und Gewaltverhältnisse, Sexismen und Rassismen, wobei sie Realität von und Widerständigkeit gegen intersectional Othering insbesondere über die paranormalen Fähigkeiten ihrer Protagonist:innen transportiert, quasi körperlich spür- und bearbeitbar macht. Zentrales Moment in Butlers unvollendeter Parabel-Trilogie ist die ausgeprägte Hyperempathie der Hauptperson: Die Emotionen der Lauren Oya Olamina umgebenden Menschen werden ihr unmittelbar eigen. So navigiert sie ständig an den Grenzen eines intersubjektiven Raums aus Schmerz und Begehren, in dem sich die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt aufzuheben droht. Entlang einer ‚crip politics of bodymind‘ (Price, 2014) lässt sich diese maximal ambivalente Kondition zugleich als Einschränkung und als besondere Fähigkeit lesen. Eine weitere Lektüre, Kim S. Robinsons The Ministry for the Future, weitet das an Drastik nicht eben arme Genre der Climate Fiction durch einen multiperspektivischen Erzählstil und einem erfrischend sturen Beharren auf menschlicher Handlungsfähigkeit trotz und gerade angesichts von letalen Extremwetterereignissen in Gegenwart und naher Zukunft auf.
Als Emparamol Shorts veröffentliche ich vier Kurzgeschichten von Eskwe, Johanna Maria Gläßer, Livia Beier und Niklas Becker, die 2023 im Rahmen des Seminars ‚Writing Urban Futures‘ entstanden sind. Die Autor:innen hatten zur Aufgabe, Kapitel 39 aus Robinsons Roman – in dem eine didaktisch getränkte Geiselnahme das Weltwirtschaftsforum 2025 in Davos sprengt – in einer eigenen Kurzgeschichte fortzuschreiben. Als transformatives narratives Moment führten sie die Figur der Hyperempathie aus Butlers Parabeln ein. Ist Butlers Protagonistin Olamina diese Fähigkeit angeboren, so kommt sie in den Kurzgeschichten in Tablettenform: Der Konsum von Emparamol, eines fiktiven, weltweit frei verfügbaren Psychopharmazeutikums, erzeugt einen temporären Zustand der Hyperempathie. Die Wirkung ist empathogen (‚mitfühlend‘) und entaktogen (‚das Innere gerührend‘) – gewissermaßen MDMA ohne Entlastung durch einen Filter künstlichen Glücks. Hart an der scheinbaren Grenze zwischen Utopie und Dystopie hat die Emparamol-Konsumentin so direkten Anteil an Emotionen und Affekten ihrer Umgebung, wobei die Substanz je nach Dosierung auf einem Spektrum räumlicher Maßstäbe von lokal bis planetar wirkt. Die Anwenderin entscheidet mithin selbst über die Ausdehnung des temporären intersubjektiven Raums – ob sie sich also Schmerz, Wut und Freude der sie unmittelbar umgebenden Menschen oder weltweit aussetzt. Indem die Kurzgeschichten die erfahrungserweiternde Wirkung dieser hypothetischen Substanz in Robinsons Erzählung einweben, loten sie aus, inwiefern Hyperempathie notwendige Bedingung wäre, um auf intersubjektiver Ebene angemessen auf die Dringlichkeiten der globalen Klimakatastrophe zu reagieren. Entgegen der vorherrschenden Entfremdung von den Bedürfnissen und Leiden anderer Wesen geht es um Organizing, kollektive Fürsorge, die Öffnung neuer, Normalitäten durchbrechender Denk- und Handlungsspielräume. Die Emparamol Shorts werfen so Fragen nach Grenzüberschreitung, Verletzlichkeit, Schuld und Rache, Verantwortung, Care und Anerkennung auf.
Download der Kurzgeschichtensammlung als .pdf: Schwarz, A. (ed.) (2023): Emparamol Shorts
- Literatur:
- brown, a.m. & Imarisha, W. (eds.) (2015) Octavia’s Brood. Science Fiction Stories from Social Justice Movements. Chico: AK Press.
- Butler, O.E. (1993) Parable of the Sower. New York: Four Walls Eight Windows.
- Evans, R. (2019) Hyperempathy. In: Schneider-Mayerson, M./Bellamy, B.R. (eds.) An Ecotopian Lexicon. Minneapolis: University of Minnesota Press, pp. 110-121.
- Le Guin, U.K. (2015) Steering the Craft. A Twenty-First-Century Guide to Sailing the Sea of Story. Boston/New York: Mariner Books.
- Le Guin, U.K. (2020) The Carrier Bag Theory of Fiction. Introduced by Donna Haraway. Berlin: Ignota Books.
- Nuwer, R. (2023) I Feel Love. MDMA and the Quest for Connection in a Fractured World. London: Bloomsbury.
- Price, M. (2014) The Bodymind Problem and the Possibilities of Pain. Hypatia 30(1): 268-284.
- Robinson, K.S. (2020) The Ministry for the Future. London: Orbit.